Förderzweck und Förderpflicht der Genossenschaft (§ 1 GenG) – Bedeutung und aktuelle Probleme
Was bedeutet der Förderzweck nach § 1 Genossenschaftsgesetz?
Der Förderzweck ist der zentrale gesetzliche Auftrag jeder eingetragenen Genossenschaft (eG). Nach § 1 Genossenschaftsgesetz (GenG) muss der Zweck einer eG zwingend darauf gerichtet sein, „den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder oder deren soziale oder kulturelle Belange durch gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb zu fördern. Einfach ausgedrückt: Eine Genossenschaft existiert, um ihren Mitgliedern Vorteile zu verschaffen – sei es durch bessere wirtschaftliche Konditionen, gemeinsame Nutzung von Ressourcen oder andere Unterstützungsleistungen im Sinne der Mitglieder.
Dieser Förderauftrag unterscheidet Genossenschaften von anderen Unternehmensformen wie GmbH oder AG. Während Kapitalgesellschaften grundsätzlich jeden erlaubten Zweck verfolgen können, muss eine Genossenschaft immer das Wohl ihrer Mitglieder im Blick haben. Gewinne der Genossenschaft sind kein Selbstzweck; sie sollen entweder an die Mitglieder ausgeschüttet oder reinvestiert werden, um den Mitgliedern langfristig Nutzen zu bringen. Die Förderung der Mitglieder ist das zentrale Unternehmensziel und gesetzlich verankerte Pflicht jeder Genossenschaft.
Der Förderzweck als tragendes Prinzip einer Genossenschaft
Der Förderzweck (Förderpflicht) ist das tragende Prinzip des Genossenschaftsrechts. Alle Entscheidungen von Vorstand und Aufsichtsrat sollten sich daran messen lassen, ob sie den Mitgliedern nutzen. Praktisch bedeutet das: Die Geschäfte der eG – zum Beispiel der Verkauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse, der gemeinsame Einkauf von Betriebsmitteln oder das Verpachten von Flächen – müssen so organisiert sein, dass die Mitglieder unmittelbar oder mittelbar profitieren.
Anders als etwa Aktionäre einer AG sollen Genossenschaftsmitglieder nicht in erster Linie auf Wertsteigerung ihrer Anteile aus sein, sondern Vorteile aus der Mitgliedschaft selbst erhalten (z. B. bessere Preise, Dividenden, Sicherheiten). Dennoch gehört zur Mitgliederförderung auch, dass das investierte Mitgliedskapital fair behandelt wird. Wenn Überschüsse erwirtschaftet werden, sollten sie den Mitgliedern zugutekommen – entweder als Gewinnausschüttung oder durch Steigerung des inneren Werts ihrer Beteiligung.
Das Genossenschaftsgesetz will ausdrücklich verhindern, dass erhebliche Vermögenswerte in der eG angehäuft werden, ohne dass Mitglieder davon etwas haben.
Ein gesundes genossenschaftliches Gleichgewicht bedeutet also: Mitglieder erhalten Vorteile aus ihrer Genossenschaft – in der Gegenwart (z. B. günstige Leistungen) und perspektivisch aus dem Unternehmenserfolg.
Problematik: Wenn Satzungsänderungen den Förderzweck aushebeln
Im konkreten Fall einer landwirtschaftlichen eG wurde kürzlich eine Satzungsänderung beschlossen, die aus Sicht vieler Mitglieder den Förderzweck gravierend verletzt. Diese Änderungen sehen vor:
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Zwangsausscheiden von Mitgliedern, wenn sie keinen Pachtvertrag mehr mit der Genossenschaft haben oder nicht mehr aktiv für sie arbeiten. Das bedeutet, dass langjährige Mitglieder – oft ältere Personen, die z. B. am Wertaufbau der Genossenschaft aktiv mitgewirkt, früher ihr Land an die eG verpachtet hatten oder dort beschäftigt waren – ihre Mitgliedschaft verlieren sollen, sobald diese aktive Geschäftsbeziehung endet.
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Begrenzung der zulässigen Geschäftsanteile pro Mitglied auf eine sehr geringe Anzahl. Ein weiterer Kernpunkt der Satzungsänderung ist die Begrenzung der Anzahl an künftig zulässigen Geschäftsanteilen auf drei pro Mitglied. Zwar dürfen Mitglieder, die vor der Änderung mehr als drei Anteile gezeichnet hatten, diese Anteile formal behalten – faktisch sind sie aber wirtschaftlich entwertet worden. Denn:
Ein potenzieller Investor, der bereit wäre, für eine Mehrheit der Geschäftsanteile einen substanznahen Preis (z. B. 400.000 Euro pro Anteil) zu zahlen, kann aufgrund der Satzungsänderung nur drei Anteile erwerben. Damit ist ein kontrollierender Erwerb – etwa im Zuge eines Beteiligungserwerbs – faktisch ausgeschlossen. Kein Investor wird eine Genossenschaftsmehrheit anstreben, wenn er nur drei Anteile kaufen darf. Die Folge: Die betroffenen Altmitglieder können ihre Anteile nicht mehr am freien Markt verwerten, weil es keine wirtschaftlich interessierten Käufer mehr gibt. Gleichzeitig verlieren sie bei Ausscheiden auch jeden Anspruch auf Beteiligung am inneren Wert der Genossenschaft – sie erhalten lediglich den Nennbetrag als Abfindung. Dies führt zu einer doppelten wirtschaftlichen Entrechtung:
Zum einen wird die Teilhabe an der Substansbildung (Stehenlassen der Gewinne) sowie die Substanzbindung der Anteile ausgehebelt, zum anderen wird deren Marktgängigkeit durch eine formal „unauffällige“ Satzungsregel systematisch blockiert.
Warum sind diese Änderungen problematisch? Zunächst führt das Zwangsausscheiden dazu, dass betroffene Mitglieder ihre Mitgliedschaft und damit verbundene Vermögensrechte praktisch verlieren. Beim Ausscheiden erhalten sie gemäß § 73 Abs. 2 S. 2 GenG lediglich ihr eingezahltes Geschäftsguthaben (den Nennwert der Anteile) zurück. Auf die beträchtlichen Rücklagen und das sonstige Vermögen der eG haben sie keinen Anspruch. Im vorliegenden Fall bedeutet das: Mitglieder, deren Anteile einen inneren Wert von z. B. 400.000 € repräsentieren, erhalten beim Ausscheiden nur den Nennbetrag von z. B. 3.000 € ausgezahlt – die Differenz (hier ca. 397.000 €) verbleibt in der Genossenschaft und kommt den verbleibenden wenigen Mitgliedern zugute. Dieser Effekt – wenige „letzte“ Mitglieder teilen sich den angesammelten Vermögensüberschuss, während ausscheidende Mitglieder faktisch enteignet werden – steht in krassem Gegensatz zur Hauptaufgabe der Genossenschaft, nämlich alle Mitglieder zu fördern.
Hinzu kommt die mangelnde Aufklärung: Viele betroffene Mitglieder wussten offenbar nicht, welche wirtschaftlichen Einbußen diese Satzungsänderung für sie bedeutet. Insbesondere ältere Mitglieder (oft über 70 Jahre alt) sind in solchen Fällen angreifbar, wenn der Vorstand ihre Unwissenheit ausnutzt und die Satzung zu ihrem Nachteil umbaut. Ein Vorgehen, das darauf abzielt, langjährige Mitglieder für eine geringe Abfindung „loszuwerden“, untergräbt den genossenschaftlichen Förderzweck in eklatanter Weise. Statt die Mitglieder zu fördern, werden sie hier benachteiligt, um Vermögenswerte auf einige wenige zu konzentrieren. Man kann darin eine Verletzung der mitgliederschützenden Treuepflicht des Vorstands sehen. Die Genossenschaft entfremdet sich von ihrem Zweck, wenn sie Mitglieder als „lästig“ empfindet, sobald diese nicht mehr aktiv liefern oder leisten – obwohl diese Mitglieder durch ihre langjährige Beteiligung das heutige Vermögen der eG mit aufgebaut haben.
Rechtliche Schutzmöglichkeiten für betroffene Mitglieder
Betroffene Genossenschaftsmitglieder sind dieser Situation nicht schutzlos ausgeliefert. Es gibt rechtliche Mittel und Wege, gegen satzungsändernde Beschlüsse vorzugehen, die den Förderzweck verletzen oder sonst gesetzeswidrig sind:
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Anfechtungsklage (§ 51 GenG): Beschlüsse der Generalversammlung (z. B. die Satzungsänderung) können innerhalb eines Monats gerichtlich angefochten werden, wenn sie gegen Gesetz oder Satzung verstoßen. Mitglieder, die bei der Versammlung anwesend waren und Widerspruch zu Protokoll gegeben haben (oder unberechtigt ausgeschlossen wurden), sind klagebefugt. In unserem Fall spricht vieles dafür, dass die Änderungen gegen das GenG und die grundlegenden Förderpflichten verstoßen – ein Gericht könnte den Beschluss für nichtig erklären. Wichtig ist, schnell zu handeln (einmonatige Frist ab Beschluss!) und sich anwaltlich beraten zu lassen.
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Feststellungsklage: Unabhängig von der Anfechtungsfrist kann in gravierenden Fällen eine Feststellungsklage erhoben werden, um gerichtlich klären zu lassen, dass eine Satzungsbestimmung unwirksam (nichtig) ist. Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn der Beschluss fundamental gegen den Förderzweck oder die guten Sitten verstößt und daher von Anfang an nichtig war. Die Abkehr vom Förderzweck – etwa durch „quasi-enteignende“ Klauseln – könnte so ein Fall von Nichtigkeit sein. Ein Gericht würde dann feststellen, dass die Klausel (z. B. automatisches Ausscheiden ohne Gegenwert) unwirksam ist und für die Mitglieder nicht gilt.
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Beschwerde bei Aufsichtsstellen (Aufsichtsbeschwerde): Genossenschaften unterliegen einer besonderen Aufsicht. In erster Linie prüft der Prüfungsverband regelmäßig die Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung (§ 53 GenG) und auch, ob die Genossenschaft ihrem Förderzweck gerecht wird. Mitglieder haben die Möglichkeit, sich beim zuständigen Prüfungsverband über Missstände zu beschweren. Darüber hinaus kann eine Beschwerde beim Registergericht (das Amtsgericht, bei dem die eG registriert ist) in Betracht kommen, insbesondere wenn Grund zu der Annahme besteht, dass die Genossenschaft gegen zwingendes Genossenschaftsrecht verstößt. Aufsichtsbehörden können tätig werden, wenn eine eG ihren Zweck offensichtlich verletzt. In extremen Fällen könnten Behörden prüfen, der Genossenschaft die Rechtsform zu entziehen oder sie aufzulösen. Auch wenn solche Schritte selten sind, erhöht bereits die Androhung oder Prüfung durch Aufsichtsstellen den Druck auf Vorstand und Verband, den Schaden zu begrenzen.
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Internes Vorgehen und kollektive Aktion: Mitglieder sollten sich untereinander vernetzen und austauschen. Gemeinsamkeit ist eine Stärke der Genossenschaftsidee – das gilt auch im Protest. So kann etwa die Einberufung einer außerordentlichen Generalversammlung verlangt werden (dies setzt meist einen bestimmten Anteil an Mitgliedern oder Geschäftsanteilen voraus, siehe Satzung), um die strittigen Änderungen zur Diskussion zu stellen oder ein Misstrauensvotum gegen den Vorstand anzustreben. Auch die Wahl des Aufsichtsrats bietet eine Chance, Einfluss zu nehmen: Ein mitgliederorientierter Aufsichtsrat kann den Vorstand kontrollieren und ggf. ablösen. Darüber hinaus sollten Betroffene erwägen, rechtlichen Rat einzuholen (ggf. gemeinsam eine Kanzlei beauftragen), um Kosten zu teilen und die eigenen Rechte effektiv durchzusetzen.
Kritische Würdigung des Vorstands- und Prüfungsverbandsvorgehens
Das beschriebene Vorgehen des Vorstands – offenbar in enger Zusammenarbeit mit dem Prüfungsverband – ist in höchstem Maße kritisch zu sehen. Ein Prüfungsverband hat eigentlich die Aufgabe, die Genossenschaft zum Wohl der Mitglieder zu beraten und zu überwachen, damit genau solche förderschädlichen Entwicklungen nicht passieren. Wenn Vorstand und Verband stattdessen Hand in Hand arbeiten, um einen eigennützigen Plan umzusetzen, der wenigen auf Kosten vieler nutzt, stellt das einen eklatanten Vertrauensbruch im Genossenschaftswesen dar. Mitglieder, besonders die älteren und nicht mehr aktiven, wurden augenscheinlich nicht ausreichend aufgeklärt und in eine nachteilige Position manövriert. Dies läuft dem Solidarprinzip und der Mitgliederförderung einer eG diametral zuwider.
Sachlich betrachtet spricht vieles dafür, dass diese Satzungsänderungen mit dem Genossenschaftsgesetz unvereinbar sind. Sie untergraben den Förderzweck – juristisch könnte man von einer unzulässigen Umgehung gesetzlicher Vorgaben sprechen. Die Genossenschaft wird ad absurdum geführt, wenn sie ihre langjährigen Mitglieder „loswerden“ will, anstatt sie für ihre Treue zu belohnen. Hier ist Kritik nicht nur angebracht, sondern notwendig: Genossenschaftsvorstände dürfen nicht zum Nachteil ihrer Mitglieder handeln, und Prüfungsverbände sollten kein fragwürdiges Verhalten decken oder gar fördern.
Aufruf: Aufmerksamkeit, Selbstschutz und gemeinsamer Widerstand
Für Sie als Mitglied einer Genossenschaft, das von solchen Maßnahmen betroffen ist, gilt: Bleiben Sie wachsam und informieren Sie sich. Achten Sie auf Mitteilungen über Satzungsänderungen und Hinterfragen Sie die Motive dahinter. Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen, überstürzt einer Änderung zuzustimmen, deren Tragweite Sie nicht vollständig überblicken. Im Zweifel ziehen Sie eine Vertrauensperson oder rechtliche Beratung hinzu.
Zugleich ist Zusammenhalt unter den Mitgliedern jetzt besonders wichtig. Sprechen Sie mit anderen Betroffenen – oft wissen viele zunächst gar nicht, dass auch andere die gleichen Sorgen teilen. Geschlossene, kollektive Reaktionen (etwa in Versammlungen kritisch nachfragen, Anträge stellen oder geschlossen gegen Beschlüsse stimmen) zeigen dem Vorstand, dass die Mitglieder ihre Rechte kennen und verteidigen. Öffentlichkeit kann ebenfalls helfen: Wenn Vorgänge unfair oder rechtswidrig erscheinen, kann es sinnvoll sein, diese bekannt zu machen – zum Beispiel durch Hinzuziehen der Presse oder Informieren höherer Verbände.
Abschließend: Eine Genossenschaft lebt vom Vertrauen ihrer Mitglieder. Dieses Vertrauen sollte weder der Vorstand noch der Prüfungsverband enttäuschen. Bleiben Sie daher aufmerksam und treten Sie geschlossen auf, um den genossenschaftlichen Gedanken der gegenseitigen Förderung hochzuhalten. Im Zweifel gibt es rechtliche Wege, sich zu wehren – zögern Sie nicht, sie zu nutzen. Denn letztlich ist Ihre Mitgliedschaft wertvoll, und sie verdient Schutz und Respekt vor solchen eingriffen in ihre substanzielle Bedeutung. Der Förderzweck muss wieder in den Mittelpunkt rücken, damit Ihre Genossenschaft das bleibt, was sie sein soll: eine Gemeinschaft zu Ihrem Nutzen.
Weitere Beiträge zum Genossenschaftsrecht können hier abgerufen werden.
Vergleiche auch die Rechtsprechung zum Genossenschaftsrecht.